Semipolis

Chronik
Semipolis – der Staat der Staaten, die Weltmacht der Weltmächte und das Postkartenmotiv unter den Postkartenmotiven. Soviel zum Offensichtlichen. Niemand würde es wagen, dies anzuzweifeln. Doch wie erlangt man solche Ehren? Welcher Wunderdünger vermochte es, solch ein Wunderwerk aus dem Weinberg sprießen zu lassen?

Diese Frage führt uns zu unserem Staatsgründer, Johann Franz Schenk von Stauffenberg, Fürstbischof seines Zeichens, der unser Staatsgebäude 1735 errichten ließ, um in diesem ein Priesterseminar unterzubringen. Von Stauffenberg errichtete jedoch nicht nur ein Gebäude, neben dem selbst die Akropolis vor Scham erröten müsste, nein, er revolutionierte in unserem Staat auch noch das Sitzmöbel und gab ihm den Namen „Kirchenbank“. Dieses kann in der Seminarkapelle jederzeit besichtigt werden und bietet auch nach über 250 Jahren noch den einzigartigen Komfort des 18. Jahrhunderts.

Noch bevor Napoleon auch nur darüber nachdenken konnte, sein Leben der Übernahme der Weltherrschaft zu widmen, gab man sich im Staat Semipolis, der die Koordinaten 47.69286205802632°N, 9.274166822433472°O hat, der Eroberung des Himmelreichs hin. 1827 jedoch wanderte die Priesterbevölkerung nach St. Peter in den Schwarzwald aus, woraufhin die allgemein als nicht minder ehrenhaft geltende katholische Lehrerschaft folgte, die sich in Semipolis zu einem katholischen Lehrerseminar zusammenschloss, beziehungsweise dort zusammen verschlossen wurde.

Von 1925 an wuseln Schüler ähnlich wie Aquarienfische in einem Aquarium in diesem ehrwürdigen Gemäuer in den diversen Treppenhäusern und Räumlichkeiten hin und her und rauf und runter und nicht selten auch kreuz und quer. Direkt zu ihren Füßen ruht die Quelle ihrer Inspiration, der See Mipolis, der aufgrund des tiefgehenden Verstands unseres Volkes gerne auch Bodensee genannt wird, wobei Nachbarstaaten diesen Namen aus Ehrfurcht bevorzugen.

Auch die Nachbarstaaten, deren Anzahl sehr groß ist, profitierten von der positiven Aura von Semipolis, die beispielsweise die berühmte Dichterin Annette von Droste-Hülshoff inspirierte, ihre Gefühle der Überwältigung im Gedicht “Das alte Schloß“ festzuhalten, in dem sie sich unter anderem auf den sich ihr eröffnenden Blick bezieht:

Schreit‘ ich über die Terrasse
Wie ein Geist am Runenstein,
Sehe unter mir die blasse
Alte Stadt im Mondenschein.
Und am Walle pfeift es weidlich,
– Sind es Käuze oder Knaben? –
Ist mir selber oft nicht deutlich,
Ob ich lebend, ob begraben!

In der Tat vermischen sich die von allen Seiten kommenden Eindrücke, sodass es erscheint, als sei das Bewusstsein nicht mehr als eine Nussschale, hin- und hergewiegt auf den sich aus den Musiksälen ergießenden wallenden Wogen musikalischer Flutwellen und der an Schönheit und Farbe nicht geizenden Vollendung der Kunst.

Bildung prägte unseren Staat somit von Anfang an, wobei die Bezeichnung ihrer Form das letzte Mal 1953 in „Gymnasium“ umgeändert wurde. Doch wodurch zeichnet sich unser Staat heute aus? Wobei, wodurch sollte er sich eigentlich nicht auszeichnen?

Wir sind biologisch und speisen Biojoghurt aus dem Bioautomaten. Wir haben Geschichte und genießen den Umgang mit der Gegenwart. Wir sind fortschrittlich und haben annähernd 50 Prozent Frauenquote. Wir bilden uns und haben den Mut, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen (vgl. Immanuel Kant). Wir haben ein gutes Arbeitgeber-Angestellten-Verhältnis, das soweit reicht, dass die Schüler ihre Lehrer einmal jährlich beim Lehrerwecken zu Hause aufsuchen. Wir versprühen eine solch heimische Atmosphäre, dass so mancher nach nicht bestandenem Abitur gerne ein weiteres Jahr geblieben ist. Wir werden Jahr für Jahr von Touristenhorden heimgesucht, die sich nicht mit der imposanten Fassade zufriedengeben, sondern darauf bestehen, unser Gebäude mit seinen exklusiven Steinteppich- und Linoleumböden von innen besichtigen zu dürfen. Wir sind mit einer Kapelle hochgeistig ausgestattet und nutzen sie unter anderem für Rockkonzerte. Und nicht zuletzt ist es uns gelungen, einen Angriff mit gehäckselten Heuballen, vermischt mit Mist, der vom Staatsweingut mit der Absicht, den Weinberg aufzuschütten, ausging, ohne den Einsatz von Artilleriegeschützen friedlich abzuwehren, weshalb wir anderen Ländern gewissermaßen auch als moralisches Vorbild dienen sollten.

Für solch ein Zusammenleben bedarf es Regeln, weshalb die Staatsverfassung jährlich überarbeitet und ergänzt wird, wobei manches vielleicht nicht mehr Zeitgemäße auch schon im Orkus des Vergessens verschwunden ist. Vom Semipolitaner hätte man also sagen können, dass er den idealen Staatsmann verkörpert, wäre er nicht Opfer seiner eigenen Menschlichkeit geworden (vgl. Michael Kohlhaas).

Die Semipolitaner, von jeher ein demokratisches Volk, hatten von ihrer Staatsgründung an immer eine Administration, die die Gesetze verwaltete und das Bildungsprogramm bestimmte. Nun ist es ja allgemein bekannt, welche Mühe es bereitet, solche Entscheidungen in gerechter Weise zu treffen, weshalb händeringend nach einer einfacheren Lösung gesucht wurde. Aber wer sollte einen Papierberg der Gewichtsklasse eines Blauwals verwalten?

An dieser Stelle spielte der Einfluss der Medien eine wichtige Rolle. Täglich sahen wir glückliche kleine Prinzen, Könige und Prinzessinnen im Fernsehen, wie sie friedlich und gewissenhaft ihren Regierungsgeschäften nachgingen. Dieses Übermaß an medialer Bildung (vgl. Umberto Eco: “Auch Bären sind böse“) machte sich eine zwielichtige Gestalt, die sich wohl einbildete, die Weisheit mit Löffeln gegessen zu haben, zunutze, indem sie sich zum König vorschlug.

Fest an der Selbstverständlichkeit der Gerechtigkeit und Menschlichkeit in Semipolis festhaltend, stimmte man zu und erhob jene Gestalt zum Monarchen und König von Semipolis, womit die langjährige Geschichte unserer Demokratie ihr Ende hat.

 

Nikolaus Roleff