Es ist ein anderes Gefühl, jetzt in diesem Fernbus zu sitzen. Vor allem aber ein glückliches, da die Fahrt nach Zürich tatsächlich stattfindet und bisher alles wie geplant funktioniert.
Das Thema „Ein literarischer Spaziergang durch das Zürich der Künstler und Literaten“ hat mich im Oktober 2013 bei der Wahl der GFS-Themen sofort gefesselt. Vielleicht schon der Gedanke daran, dass es etwas anderes sein sollte als das bloße zwanzig -minütige Referat über die Bedeutung des Biedermeiers im neunzehnten Jahrhundert. In meinem letzten Jahr an der Schule stellt dieses Projekt eine gewisse Herausforderung für mich dar, die zugleich meinen Interessen entspricht.
Mein Deutschkurs hat mich nach freiwilliger Anmeldung nicht alleine fahren lassen. Fabian und Deborah können aufgrund gesundheitlicher Probleme nicht mitkommen. Hinter mir sitzt aber Katharina, die nach der J1 leider das Bundesland gewechselt hat. Und auch Herr Moser, unser ehemaliger Deutsch – und Klassenlehrer, kommt mit, um Herrn Bilger die alleinige Aufsicht über die J2 abzunehmen. Ich glaube aber, dass ihn auch einiges mit der Stadt Zürich verbindet und er uns gerne einmal wiedersehen wollte.
Die Stimmung ist sehr gut. Viele sind zum ersten Mal in Zürich. Die ganze Zeit über kommen unterschiedlichste Gespräche zustande, während wir in belebten Straßen, alten Gassen, Parks und am Flussufer unterwegs sind. Vieles von dem, was ich im Laufe des Tages erzähle, ist schon auf die eine oder andere Art in unserer nun bald endenden Schulzeit vorgekommen.
Solange also Liebeslyrik im Lehrplan steht, wird man nicht an dem Platz, an dem das ehemalige Geburtshaus von C. F. Meyer stand, vorbeikommen, ohne einige Worte über ihn zu sagen. Ebenso verleitet auch die Behandlung des inneren Monologs in Klasse 9 und darauffolgenden Jahren zur Erwähnung des Meisterwerks des irischen Schriftstellers James Joyce. Sein bedeutendstes Werk „Ulysses“ zeigt, wie wir später noch im Unterricht erfahren sollten, welche Ausmaße Bewusstseinsströme sowohl in Bezug auf Länge als auch auf Provokation erreichen können.
Vieles von dem, was in Zürich entstanden ist, hat Bekanntes hinter sich gelassen, Grenzen geöffnet und neue Gebiete erschlossen.
Wo gäbe es also einen geeigneteren Ort, um sowohl eine künstlerische als auch eine politische Revolution in ein und derselben Gasse zu beginnen als in der neutralen und kulturell reichen Schweiz?
Um von der Spiegelgasse 14 in die Spiegelgasse 1 zu gelangen, ist für jemanden, der im Exil lebt, unentwegt an einem Buch schreibt und folgenreiche Ideen sammelt, nicht schwer. Lenin ist das Cabaret Voltaire jedenfalls nicht fremd gewesen.
Die Spiegelgasse ist also zum Sinnbild einer „gewaltsamen, doppelten, wachen und geträumten Revolution geworden“ (Weiss, Peter: Die Ästhetik des Widerstands, S.59), das aus zwei Fronten besteht. So verschieden beide Revolutionen auf den ersten Blick in Bezug auf Richtung und Gewichtigkeit auch sein mögen, so verwandt scheinen sie in ihrem Streben nach gesellschaftlichen Veränderungen und Abschaffung verbrauchter Konventionen und Normen zu sein. Vielleicht hat die Oktoberrevolution in Russland, angeführt von Lenin, mehr Beeinflussung durch den künstlerischen Spott und die Ironie der Dadaisten erfahren, als manchen lieb ist.
Während der erste Weltkrieg vor allem von den Dadaisten als sinnlose Verschwendung und Vergeudung von Menschenleben wahrgenommen wird, treibt er zudem einen unfreiwilligen Keil zwischen die Verständigung der Menschen und Künstler der verschiedenen Nationen. Zumindest in der Schweiz aber konnten sich Gegner der in Teilen Europas herrschenden politischen Systeme und Gleichgesinnte anderer Art die meiste Zeit über weitestgehend frei bewegen.
Direkt neben dem Haus Lenins bemerkt man, wenn man den Kopf hebt, eine unscheinbare Gedenktafel, die darauf hinweist, dass an diesem Ort Georg Büchner im Alter von nur 23 Jahren gestorben ist. Der Autor unseres Sternchenthemas „Dantons Tod“ war selbst ein Revolutionär, der in Deutschland politisch verfolgt wurde und unter anderem deshalb nach Zürich floh. Er hatte zudem an der Universität Zürich eine Privatdozentenstelle inne, da er nach seinem Studium der Medizin dort Vorlesungen über die Anatomie der Fische halten sollte.
Ein paar Häuser weiter und etwa ein Jahrhundert früher lebte Johann Caspar Lavater hier. Während unserer Zeit in der Stadt sehen wir noch ein weiteres Haus, in dem er gelebt hat. Dieses befindet sich auf einem Platz neben der ältesten reformierten Pfarrkirche St. Peter, in der er als Pastor tätig war. Heute den meisten Menschen unbekannt, galt er in der Zeit der Aufklärung als eine kontroverse Persönlichkeit. Er war nicht nur Freund Goethes während dessen „Sturm- und- Drang Zeit“, in der dieser ihn auch mehrmals besuchte, sondern auch Autor des Werks „Physiognomische Fragmente“. Die Tatsache, dass man allein aufgrund äußerer körperlicher Merkmale, besonders aufgrund des Gesichts, auf die Eigenschaften und den Charakter eines Menschen schließen kann, würde bestimmt auch heute noch auf das Interesse mancher stoßen.
Als ich das erste Mal nach Zürich gefahren bin, habe ich mich vor allem auf das Café Odeon gefreut. Auf den Ort, den schon Max Frisch (und Walter Faber), Else Lasker Schüler, die Dadaisten, Klaus Mann, Erich Maria Remarque, James Joyce, Albert Einstein, Lenin und viele andere, die Großes geleistet haben, häufig aufsuchten. Das Café galt früher als Intellektuellen- und Exilantencafé.
Während wir die Trittligasse – eine Gasse bestehend aus Stufen – hinaufgehen, fallen besonders die alten Häuser mit ihren jeweiligen traditionellen Namen wie zum Beispiel „zum Sitkust“ oder „zum steinernen Erggel“ auf, die teils mehrere hundert Jahre alt sind, da sie nie den Zerstörungen eines Krieges ausgesetzt waren.
Oberhalb der Stadt angelangt, kommen wir nahezu direkt in die unscheinbare Krautgasse, die noch auf den Friedhof „Krautgarten“ hinweist, auf dem Georg Büchner begraben wurde. An diesem Platz befindet sich heute das renommierte Kunsthaus Zürich. Unser Ziel ist es jedoch nicht, in all die Museen auch hineinzugehen, vielmehr geht es darum, sich vielleicht bei einem späteren Besuch der Stadt an sie zu erinnern und dann gerne anzuschauen.
Ein weiteres, sehr empfehlenswertes Museum ist in meinen Augen das Strauhofmuseum im Herzen der Stadt. Gerade der unverständlichen Schließung entgangen, bietet es mit seinen bis zu vier Wechselausstellungen im Jahr eine große Auswahl literarischer Themen. Diese reichen von Tolstoi, Annemarie Schwarzenbach, Inseln als Sehnsuchtsorten, Charles Dickens, Bücherhimmel – Bücherhöllen, Ingeborg Bachmann bis hin zu Max Frisch. Es ist in der Schweiz nahezu einzigartig, aber auch darüber hinaus und das seit 1989.
Indem man den Blick vom Kunsthaus nun über die Straße schweifen lässt, entdeckt man das Züricher Schauspielhaus, in dem einst die Uraufführung zu Bertolt Brechts „Leben des Galilei“ (1943) stattfand. „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt sind im Jahre 1962 zum ersten Mal aufgeführt worden sowie im Jahr 2014 das Stück „Über Tiere“ von Elfriede Jelinek.
Die Straße entlang biegt ein kleiner Weg in den Garten eines alten Herrenhauses, den Rechberggarten, der für die Öffentlichkeit zugänglich ist, ein. Dieser schöne Stadtgarten führt uns direkt auf den Campus der Universität Zürich zum Thomas Mann Archiv. Dieses Archiv hat seinen Standort gerade deshalb in dieser Stadt, weil die Familie Mann hier im Exil lebte, um den Nationalsozialisten nicht als Aushängeschild zu dienen, bevor sie ganz in die USA emigrierte. Nach 1945 ist die Familie jedoch wieder nach Europa zurückgekehrt und hat sich abermals in Zürich niedergelassen. Erika und Klaus Mann sowie Therese Giehse eröffneten mitten in der Stadt das Cabaret „Pfeffermühle“. Noch in Zürich, aber auch später in den USA machte die Familie Mann auf unterschiedliche, sei es auf humoristische oder provokante Art und Weise, im Radio oder durch Vorträge und Bücher auf die Gefahren des Nationalsozialismus aufmerksam.
Später genießen wir die wunderschöne Aussicht, die man von der Polyterasse der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich aus auf den Zürichsee, das Fraumünster, St. Peter und all die Wege, auf denen wir schon gegangen sind, hat. Im Bus sollten uns auch noch zwei Altabiturienten unserer Schule begegnen. Einer der beiden studiert nun Maschinenbau an der ETH, während der andere an der Charité in Berlin studiert und im Moment im Züricher Krankenhaus arbeitet.
Wenn es jetzt dem ein oder anderen so vorkommt, als würden wir im Kreis oder gar auf Irrwegen durch das Niederdorf laufen, dann ist das vielleicht gar nicht so falsch. Wir betrachten nämlich noch das „Haus zum goldenen Winkel“, in dem Gottfried Keller geboren worden ist, gehen bis ganz an den Fluss hinab zur Wasserkirche und zum Denkmal Zwinglis. Indem man ihn mit Schwert und Bibel darstellt, scheint das, wofür er eingetreten ist, gut zur Geltung zu kommen. Der stets umstrittene Reformator handelte größtenteils nach Luthers Vorbild, wenn auch deutlich radikaler. „Alles was nicht in der Bibel begründet steht solle abgeschafft werden“. Bilder und Musik waren von da an kein fester Bestandteil mehr eines Gottesdienstes. Insgesamt wurde an strengen Sittenvorstellungen festgehalten, denen auch das Feiern von Festen unterlag. Die Auswirkungen sind in dieser Stadt und in der ganzen Schweiz noch heute bemerkbar, wenn man beispielsweise an die Schlichtheit und die Bescheidenheit denkt, die oftmals nach außen hin herrscht.
Man prahlt nicht mit Geld, vielmehr spendet man an gemeinnützige Einrichtungen, die dann höchstens die Namen der Stifter tragen. In Zürich selbst sieht man das besonders gut, wenn man auf dem Paradeplatz steht. Trotz der Banken wirkt der Platz eher bescheiden.
In dem Hinterhof „Rosenhof“, den man über die Weingasse betreten kann, steht ein Brunnen mit einer Inschrift von Max Frisch, der ebenfalls Architekt war. Während durch diese Inschrift all das erwähnt wird, was Zürich hervorhebt und wofür sie nicht steht, ist sie zur Erinnerung an die Opfer des Vietnamkriegs gedacht.
Den Schluss unseres Rundganges bildet die bereits erwähnte ehemalige „Pfeffermühle“. Jetzt hat jeder noch Zeit, einen Kaffee zu trinken, am Fluss zu sitzen oder die Stadt einfach noch nach eigenen Vorstellungen zu erkunden.
Ich danke meinem Deutschkurs, mit dem dieser Ausflug sehr viel Spaß gemacht hat. Außerdem ist es sehr schön, Herrn Moser wieder einmal gesehen zu haben. Ich hoffe, dass er an diesem Tag auch noch das ein oder andere Neue über Zürich herausgefunden hat. Ich bin froh, dass Herr Bilger diesen außergewöhnlichen Vorschlag gemacht hat und ich mir dieses Thema ausgesucht habe. Ich möchte mich auch ganz besonders bei ihm für seine Unterstützung bei der Vorbereitung bedanken und den großen Gestaltungsspielraum, den er mir gelassen hat, in dem Vertrauen, dass dieser Tag für alle interessant und gewinnbringend werden würde.
Zürich GFS, 24.10.14
Julia Weiß, J2